
Station 7.0 // Ganz schön verzettelt: Im August 1945 lichtet der Fotograf Fritz Eschen drei – für die entbehrungsreiche Zeit erstaunlich gut gekleidete – Frauen ab, die den Aushang von Tauschangeboten und anderen Annoncen an einem Bretterzaun studieren.
Die unbebaute Ecke neben der Brandwand des Wohnhauses Kaiserplatz 9 mit der Adresse Saalfelder Straße 1 wurde so lange als Markt genutzt, bis der Bebaungsplan im Jahr 1964 dem Treiben ein Ende setzte: Der Bau des Stadtrings fraß sich durch die Stadt.
Die Stadtautobahn hat alleine auf der Nordseite im Abschnitt zwischen Bundesplatz und Blissestraße 21 Hausnummern und 65 Bäume unter sich begraben. Neben der Auslöschung der Saalfelder Straße wurde auch die Koblenzer und die Weimarische Straße um 10 Hausnummern ärmer.
Die auf der gegenüberliegenden Seite befindliche Bernhardstraße verlor hingegen „nur“ 10 Adressen und 5 Bäume…
Text: Christina Kautz

Station 7.1 // Das geteilte Haus: Die Prinzregenten-Apotheke am Bundesplatz 11 sucht man heute genauso vergeblich wie den schwungvollen Schriftzug Granada am Bundesplatz 10. Sucht man diese Adressen über Google Street View, landet man bei den Nummern 8, 9 und 11 im Bundesplatztunnel, die Adresse Bundesplatz 10 ist sinnigerweise an eine DHL-Packstation unter dem donnernden Autobahntrog vergeben.
Die Hausnummern 8 und 9 im Rücken des Fotografen stehen jedoch unverändert an ihrem Platz. Die im April 1965 bereits vernagelte Granada Bar ist – wie auch die Apotheke – noch bis 1967 im Branchenbuch verzeichnet. Im März des gleichen Jahres wird bereits der Autotunnel eingeweiht. Für den Bau der Autobahn wird das Haus Bundesplatz 10 in Gänze – das benachbarte Haus nur (!) zu einem Drittel abgerissen: rechts der Loggien, links des »Apothekerflügels« bekommt der Altbau eine neue Brandwand zur Autobahn.
Mit dem Bau der Autobahn verschwindet auch der dahinterliegende Abschnitt der Bernhardstraße und damit das Wohnhaus der Knefs, es verschwindet der gegenüberliegende Wochenmarkt an der Ecke zur Seegefelder Straße, ja der ganze Straßenzug mit seiner einseitigen Bebauung und den Kastanien am Bahndamm. Zwischen der Blisse- und der Prinzregentenstraße werden zu Sackgassen: die Koblenzer, die Weimarische und die Bernhardstraße.
Text: Christina Kautz

Station 7.2 // »Macht das Tor auf!« lautet seit November 1958 eine Kampagne des Kuratoriums Unteilbares Deutschland nach dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows. Kurz davor, am 2. 8. 1958 war die rekonstruierte Quadriga durch das Nadelöhr am Bundesplatz an ihren angestammten Platz auf dem Brandenburger Tor gebracht worden. Gerade mal ein Pferdekopf war nach dem Krieg davon übriggeblieben, zum Glück hatten vorausschauende Fachleute rechtzeitig Gipsabgüsse anfertigen lassen. Und so stellte die Gießerei Noack – damals noch in Friedenau ansässig – die weltberühmte Skulptur von Johann Gottfried Schadow in sorgfältiger Arbeit wieder her. Dies war der DDR immerhin eine 25 Pfennig Briefmarke wert. Drei Jahre später wurde die Mauer gebaut.
Es ist das nördlichste Pferd der Vierergruppe, das seinen Kopf so charmant zur Seite legt, als ob es dann besser unter der Brücke des S‑Bahnringes hindurchpasste. Und es befindet sich auf dem Weg in den Sowjetischen, hier an der Grenze zwischen Amerikanischem und Britischen Sektor, wo im August 1945 Leo Borchard, frisch ernannter Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters im Auto erschossen wurde. Der Chauffeur hatte den Wachtposten übersehen.
Der Blick des Fotografen geht unter der S‑Bahnbrücke hindurch auf das damals noch in Gänze existierende Haus Bundesplatz Nr. 11 (s.o.) auf der rechten, auf den Markt an der Brandwand der Nummer 9 und den Turm der 8 auf der linken Seite der damals noch (!) baumbestandenen Allee.
Text: Christina Kautz

Station 7.3 // Die Barriere bekommt Verstärkung. Im Jahr 1964 dokumentiert der Fotograf die Ertüchtigung der S‑Bahnbrücke zwecks beabsichtigter Unterquerung durch die U‑Bahnlinie 9 aus Friedenauer Sicht. Mit dem Bau der U9 steht die lebendige Kreuzung am südlichen Bundesplatz vor einer vermeintlichen »Entlastung«. Geplant ist ein vornehmlich den Autoverkehr begünstigender und den gesamten Platz betreffender Stadtumbau auf insgesamt vier Ebenen, der erst im Jahr 1993 mit der Wiederinbetriebnahme der Ringbahn – samt Verlegung des Bahnhofs Wilmersdorf in Richtung Bundesplatz – abgeschlossen werden sollte.
Jenseits des S‑Bahnringes warten die Häuser mit den Nummern 10 und 11 darauf »niedergelegt« zu werden. Im Jahr 1964 beschlossen die Senatoren Theuner (für Verkehr und Betriebe) und Schwedler (für Bau- und Wohnungswesen) mit den »Bebauungsplänen« IX-73 / IX-81 / IX-82 den Abriss von weiteren 42 Adressen entlang der nicht mehr vorhandenen Saalfelder Straße und der Bernhardstraße. Innerhalb des S‑Bahnringes wird bis 1969 der sechsspurige – bis heute unvollendet gebliebene – »Berliner Stadtring« mit den Abfahrtsrampen Detmolder und Wexstraße durch die Stadt getrieben. Das U‑Bahn-Bauwerk mit seinen sechs Zugängen über je eine Zwischenebene zu den voneinander getrennten Tunnelröhren der U 9 wurde erst im Jahr 1971 in Betrieb genommen.
Damit endgültig verschwunden ist die Atmosphäre des bauzeitlichen Stadtraumes mit Straßenbahngleisen, Alleebäumen, Plattenbändern aus Granit und der Vorgärten, um den eigenständigen Bauwerken der »Verkehrslenkung« Platz zu machen. Ampelanlagen regeln den Verkehr.
Text: Christina Kautz

Station 7.4 // Mittelstützen für den Ring. An der Grenze zwischen Wilmersdorf und Friedenau entsteht zwischen 1871 und 1877 ein sieben Meter hoher Bahnviadukt. Er ist Teil der 37 Kilometer langen Berliner Ringbahn und liegt am Unterkiefer des sogenannten Hundekopfes. Seit der Eröffnung der Bahnstation Wilmersdorf-Friedenau am 1. Mai 1892 verbindet eine mit der Elektrifizierung im Jahr 1928 gestaltete und beleuchtete Unterführung den Varziner Platz in Friedenau mit der Bernhardstraße in Wilmersdorf, deren nördlicher Ausgang heute jäh und im dunklen Getöse der Autobahn endet.
Die in den sechziger Jahren geplante und realisierte Untertunnelung des Bundesplatzes und der Bundesallee durch die U‑Bahn-Linie 9 und den vierspurigen Autoverkehr machte im Bereich der S‑Bahnbrücke eine Abstützung erforderlich. Die auf dem Bild von 1966 zu sehende tief reichende Betonkonstruktion stellt die Mittelwand des im Hintergrund zu sehenden zweiröhrigen Autotunnels dar, an den die U‑Bahnstationen beidseitig angelagert wurden.
Nach dem Bau der Mauer war mit der Stadt auch der Ring geteilt. Damit war der S‑Bahnringverkehr in West-Berlin zunehmend eingeschränkt und kam mit dem Bahnstreik 1980 für 13 Jahre vollständig zum Erliegen. Kurz vor der Wiedervereinigung wurde die S‑Bahnstation Wilmersdorf-Friedenau um rund 100 Meter nach Westen in den Bereich des hier zu sehenden Lichtspaltes der S‑Bahnbrücke verlegt, die Umsteigestation U+S‑Bahnhof Bundesplatz wurde 1993 eröffnet. Die benachbarte Autobahnbrücke macht den Ort jedoch unerträglich.
Text: Christina Kautz

Station 7.5 // Tunnelrampe von unten: Der Fotograf Hans Seiler hat sich auf zwei Ebenen jeweils rechts der städtebaulichen Mittelachse positioniert und befindet sich damit am Südende des vormals gärtnerisch gestalteten Platzes dort, wo der Gartendirektor Richard Thieme einen großzügigen Kinderspielplatz vorgesehen hatte.
Bei der Umgestaltung im Jahr 1927 hatte der seit 1903 im Amt befindliche Gartenarchitekt das mittige Fontänenbecken und sämtliche den damaligen Kaiserplatz rahmenden Baumsolitäre stehen lassen und in seine Platzkomposition integriert. Dies wollte beim Bau des Tunnels trotz aller Technik nicht gelingen – die abgebildeten Einzelbäume stehen heute alle nicht mehr. Seither blickt der – die Achse nach Norden abschließende, denkmalgeschützte Bau der Berufsgenossenschaften in einen Tunnel.
Ob der im Vordergrund aufgehäufte Bauschutt von der Brunnenstube des Fontänebeckens stammt?
Text: Christina Kautz

Station 7.6 // Tunnelrampe von oben: Durch die Baustelleneinrichtung der späten Sechziger wird die Dimension der 162 m langen Tunnelrampe und der massive Eingriff in die Platzgestaltung deutlich – vom alten Bundesplatz bleiben zwei mit Bäumen bestandene Landzungen im Asphalt- und Automeer.
Nur im Süden des Platzes ist eine Straßenquerung vorgesehen. Von dort müssen sich zu Fuß Gehende bis zur Kreuzung Hildegardstraße an die 300m nach Norden begeben, um den Platz bzw. die »Allee ohne Bäume« wieder queren zu können.
Die für dokumentarische Zwecke des Landes Berlin arbeitenden Fotografen bleiben in der Regel unbekannt. Das »Schattenselfie« des Bildjournalisten Hans Seiler ist das Persönlichste, was wir von ihm zu sehen bekommen. Anfang der Siebziger Jahre soll er laut Auskunft des Landesarchivs tödlich verunglückt sein.
Text: Christina Kautz
Überblick | Station 6 |
Station 1 | Station 7 |
Station 2 | Station 8 |
Station 3 | Station 9 |
Station 4 | Station 10 |
Station 5 | Station 11 |
Themen der einzelnen Stationen
1.0—Kunsthochschule im Verwaltungsgebäude
2.0—Ein Kind bläst Seifenblasen
2.1—Ein Ort für Bedürfnisse
3.0—Ein Paar fährt Fahrrad
3.1—Drei Männer auf einer Stehleiter
4.0—Zwei Kinder, ein Roller und eine Litfaßsäule
4.1—Drei Kinder und ein Roller
5.0—Eine prall gefüllte Ledertasche
6.0—Lange Schlange vor dem Pilsator
7.0—Ganz schön verzettelt
7.1—Das geteilte Haus
7.2—»Macht das Tor auf!«
7.3—Die Barriere bekommt Verstärkung
7.4—Mittelstützen für den Ring
7.5—Tunnel von unten
7.6—Tunnel von oben
8.0—Ich will hier einfach nur sitzen
9.0—Sichtlich fröstelnd
Station 10 (Friedrich Seidenstücker)
10.0—Alltag am Kaiserplatz 16 / 17
10.1—Kaiserplatz 16 – zweiter Hinterhof – Gartenhaus
10.2—Seidenstückers Gartenhausbalkon
10.3—Sommer vorm Balkon
10.4—Brandwand um Brandwand
10.5—Stein für Stein
11.0—Berlin, Ecke Bundesplatz